10. März 2025Verborgene Symptome, neue Perspektiven

ADHS im Erwachsenenalter

ADHS im Erwachsenenalter äussert sich oft anders als bei Kindern. PD Dr. med. Ana Buadze stellte in ihrem Referat im Rahmen des pharmaDavos-Kongresses die aktuellsten Erkenntnisse zur Symptomatik und Behandlung zusammen, damit die Versorgung erwachsener ADHS-Patientinnen und -Patienten verbessert werden kann.

Die ADHS äussert sich im Erwachsenenalter anders als bei Kindern.
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Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist längst nicht mehr nur ein Thema der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Immer mehr rückt in den Fokus, dass ADHS bei einem Grossteil der Betroffenen bis ins Erwachsenenalter fortbesteht. Ein fundiertes Verständnis dieser komplexen Störung verbessert die Versorgung betroffener Erwachsener.

ADHS – keine «Modediagnose»

Entgegen der landläufigen Meinung, ADHS sei eine Modeerscheinung, zeigen historische Belege und aktuelle Forschungsergebnisse ein anderes Bild. Bereits im 19. Jahrhundert finden sich Beschreibungen von Symptomen, die heute als typisch für ADHS gelten, wie etwa der «Zappelphilipp» im Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann.

Dr. Buadze betonte in ihrem Vortrag, dass ADHS keine Erfindung der modernen Zeit sei. Es fänden sich Hinweise auf ähnliche Verhaltensmuster schon in historischen Texten.

Prävalenz und Genetische Grundlagen

Die Prävalenz von ADHS liegt bei etwa fünf Prozent der Bevölkerung, unabhängig von geografischen oder ethnischen Unterschieden. Die Ätiologie ist multifaktoriell, wobei die Vererbbarkeit eine wesentliche Rolle spielt (50-80 %). Familiäre Häufungen sind häufig. «Die genetische Komponente bei ADHS ist sehr stark», erklärte Dr. Buadze.

«Wenn ein Elternteil betroffen ist, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch ein Teil der Kinder betroffen ist.» Genetische Faktoren wie Polymorphismen im Dopamin-Transporter- und -Rezeptor hätten einen erheblichen Einfluss auf die Ausprägung der ADHS-Symptomatik.

Fortbestehen im Erwachsenenalter

Bei bis zu 70 Prozent der Betroffenen persistiert ADHS bis ins Erwachsenenalter. Interessanterweise gleichen sich die Geschlechterverhältnisse im Erwachsenenalter an (Frauen : Männer = 1:1), während im Kindesalter ein Verhältnis von 1:2 (Mädchen : Jungen) besteht. Dass in der Kindheit weniger Mädchen betroffen seine, liege vor allem daran, dass sich ADHS bei Mädchen anders ausdrücke als bei Jungen (weniger «körperlich», mehr «träumerisch») und die Diagnose bei Mädchen deshalb seltener gestellt werde.

Klassifikation, Präsentation und Symptomatik

Die aktuelle Fassung der ICD-11 (seit 01.01.2022) ordnet ADHS in die Gruppe der neuromentalen Entwicklungsstörungen ein. Die Diagnosekriterien umfassen:

  • Beginn vor dem 12. Lebensjahr
  • Anhaltendes Muster von Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität-Impulsivität
  • Dauer von mindestens 6 Monaten
  • Negative Auswirkungen auf verschiedene Lebensbereiche (schulisch, sozial, beruflich)
  • Manifestation der Kernsymptome in verschiedenen Situationen/Kontexten
  • Kann nicht durch andere Störungen/Substanzen oder Medikamente erklärt werden
  • Häufiges gleichzeitiges Auftreten mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS)

Die Kardinalsymptome von ADHS sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Die Kernsymptome und Präsentationen werden in die drei Gruppen «überwiegend hyperaktiv-impulsiv», «gemischt» und «überwiegende unaufmerksam» eingeteilt. Die Symptome äussern sich im Erwachsenenalter oft subtiler als bei Kindern, weil Erwachsene im Laufe ihres Lebens verschiedene Kompensationsmechanismen entwickelt haben.

Dr. Buadze erläuterte: «Viele meiner Patienten berichten, dass sie Schwierigkeiten haben, sich auf eine Sache zu konzentrieren und ständig von ihren Gedanken abschweifen. Das führt oft zu Problemen im Beruf und im Alltag.» Sie fügte hinzu, dass sich die Aufmerksamkeitsprobleme im Erwachsenenalter auch in der Unfähigkeit äussern können, Gespräche in grösseren Gruppen zu verfolgen. «Auch die innere Unruhe ist ein zentrales Symptom bei vielen Erwachsenen mit ADHS», erklärte Dr. Buadze (siehe Kasten unten). «Sie beschreiben es oft als ein Gefühl, ständig unter Strom zu stehen und sich nicht entspannen zu können.»

Wichtig ist, dass ADHS nicht nur einen Bereich, sondern immer mehrere Bereiche des Lebens betrifft. Bemerkungen wie «Ich habe auch schon einmal etwas gesucht, habe ich jetzt auch ADHS?», seien nicht nur respektlos, sondern auch falsch. Es ginge darum, dass Betroffene bis zu mehreren Stunden täglich damit verlieren würden, nach verlegten Gegenständen zu suchen.

ADHS-Diagnostik im Erwachsenenalter

Eine präzise Diagnose ist entscheidend. Sie umfasst eine gründliche Anamnese, die sowohl die Biografie als auch das Verhalten in verschiedenen Lebensphasen beleuchtet. Zur Diagnose werden mehrere, umfangreiche Sitzungen durchgeführt: die erste Sitzung mit Dr. Buadze dauert 90 Minuten und die drei Folgesitzungen je 60 Minuten. Die Diagnosestellung im Erwachsenenalter sei oft eine Herausforderung. Es sei wichtig, die gesamte Lebensgeschichte des Patienten zu berücksichtigen und auch Informationen von Angehörigen und alten Schulzeugnissen einzuholen. Dr. Buadze lag es besonders am Herzen, die Aufmerksamkeit auf Frauen zu lenken, die häufig erst spät diagnostiziert werden. «Sie sind oft weniger hyperaktiv und impulsiv, sondern eher unaufmerksam und verträumt. Das führt dazu, dass sie oft übersehen werden.»

Da ADHS häufig mit anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Essstörungen (Übergewicht) assoziiert ist, ist es wichtig, auch in diesen Konstellationen an eine mögliche Komorbidität mit ADHS zu denken.

Aufgrund des oft mangelnden Selbstbewusstseins und des impulsiven Verhaltens seien bei jungen Frauen  mit ADHS auch ungewollte sowie sexuell übertragbare Krankheiten ein Problem. An diese Möglichkeit könne man in der Apotheke zum Beispiel bei den Frauen denken, die nach der Pille danach verlangen.

In der Apotheke könnte ein einfacher Screeningtest zum Einsatz kommen (Screening-Test mit Selbstbeurteilungs-Skala für Erwachsene V1.1 (ASRS-V1.1)). Wenn sich die Antworten von mindestens vier von diesen sechs Fragen sich im dunkelorangen Bereich befinden, besteht ein Verdacht (keine Diagnose!), und es bedarf einer weiterführenden Diagnostik. Eine möglichst frühe Diagnostik sei wichtig, weil eine ADHS grosse Auswirkungen auf die verschiedensten Lebensbereiche haben kann, sowie auf die Gesundheit (z.B. Komorbiditäten, erhöhtes Unfallrisiko, usw.).

Therapeutische Ansätze und Behandlungsmöglichkeiten

Dennoch muss nicht jede ADHS muss therapiert werden, entscheidend ist der jeweilige Leidensdruck. Die Behandlung von ADHS im Erwachsenenalter sollte multimodal erfolgen und sowohl medikamentöse als auch nicht-medikamentöse Ansätze (z.B. Psychotherapie, Verhaltenstherapie) umfassen. «Eine Kombination aus Medikamenten, Psychotherapie und Selbsthilfestrategien ist oft am effektivsten», so Dr. Buadze. Die Pharmakotherapie sei bei Bedarf bereits bei leichter bis moderater Ausprägung indiziert. Und natürlich müssten auch die jeweiligen Komorbiditäten behandelt werden.

Medikamentöse Therapie

Die medikamentöse Therapie der ADHS im Erwachsenenalter ist ein zentraler Bestandteil eines multimodalen Behandlungsansatzes. In der Schweiz sind drei Substanzklassen für die ADHS-Behandlung bei Erwachsenen zugelassen:

  • Methylphenidat (1. Wahl)   
  • Lisdexamfetamin
  • Atomoxetin

Methylphenidat gilt als First-Line-Therapeutikum und ist in retardierter und unretardierter Form verfügbar. Lisdexamfetamin ist erst seit einigen Jahren für Erwachsene zugelassen und bietet als Prodrug ein reduziertes Missbrauchspotenzial. Atomoxetin wird bei Kontraindikationen für Stimulanzien eingesetzt. Bei der Therapie sollten stets langwirksame Präparate bevorzugt werden (stabileren Plasmaspiegel, weniger Rebound-Effekte, besseren Compliance, geringeres Missbrauchspotenzial und Diskretion im Alltag). Dennoch gibt es spezifische Indikationen für kurzwirksame Präparate, etwa in der Titrationsphase, als "Booster"-Dosierung oder bei einem Bedürfnis nach Flexibilität. Für den Therapieerfolg entscheidend ist die individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung unter Berücksichtigung von Komorbiditäten und sozialem Umfeld. Es sei auch sehr wichtig, Patientinnen und Patienten über mögliche Nebenwirkungen, Toleranzentwicklungen und Rebound-Effekte aufzuklären, so Dr. Buadze.

Psychotherapie und Psychoedukation

Psychotherapeutische Massnahmen und Psychoedukation sind entscheidend, um Betroffenen zu helfen, mit ihren Symptomen umzugehen und Strategien zur Verbesserung ihrer Lebensqualität zu entwickeln. Auch Umgebungsfaktoren wie der Arbeitsplatz und der soziale Kreis spielen eine wichtige Rolle bei der Behandlung von ADHS. Es ist wichtig, Betroffene dabei zu unterstützen, ihre aktuelle Lebenssituation zu verbessern und ein besseres Verständnis für ihre Erkrankung zu entwickeln.  Viele ADHS-Betroffene würden unter Stigmatisierung leiden, so Dr. Buadze. Aufklärung ist der Schlüssel, um Vorurteile abzubauen und den Zugang zu Informationen und Unterstützung zu erleichtern. «Wir müssen das Stigma rund um ADHS abbauen», forderte Dr. Buadze. «Es ist wichtig, dass die Betroffenen sich nicht schämen und offen über ihre Probleme sprechen können.»

Die Apotheke als Gesundheitsbegleiter

ADHS im Erwachsenenalter ist ein ernstzunehmendes und vielschichtiges Leiden, das ein tiefes Verständnis, Empathie und fundierte therapeutische Optionen erfordert. Apotheker können eine Schlüsselrolle bei der Identifizierung, Behandlung und Unterstützung von Betroffenen einnehmen. Durch kontinuierliche Fortbildung und Wissensvermittlung können sie dazu beitragen, das Bewusstsein für diese Erkrankung in der Gesellschaft zu schärfen und das Leben betroffener Menschen positiv zu beeinflussen. "Apotheker sind oft die erste Anlaufstelle für Menschen mit ADHS", schloss Dr. Buadze. «Daher ist es wichtig, dass Sie gut informiert sind und den Betroffenen mit Rat und Tat zur Seite stehen können.»

Symptomatik der ADHS im Erwachsenenalter

1. Aufmerksamkeitsstörungen:

  • Geistesabwesenheit, Tagträumerei
  • Leichte Ablenkbarkeit
  • Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit über längere Zeit aufrechtzuerhalten
  • Schlechtes Zuhören, häufiges Nachfragen
  • Verlieren des «Fadens»
  • Notwendigkeit, Dinge wiederholt nachzulesen

2. Hyperaktivität/Rastlosigkeit:

  • Innere Unruhe, Gefühl eines «Motors» in sich
  • Schwierigkeiten, sitzen zu bleiben
  • Exzessives Herumlaufen in unpassenden Situationen
  • Unfähigkeit zu entspannen
  • Zappeln mit Füssen oder Fingern, unruhige Sitzposition
  • Übermässiges Reden

3. Temperament:

  • Schnelle Reizbarkeit oder leichte Irritabilität
  • Aggressionen verbal oder tätlich
  • Hitzeblitz/Hitzkopf
  • Von Null auf Hundert in innerhalb von Sekunden, Wutausbrüche
  • Probleme am Arbeitsplatz und im sozialen Kontext

4. Affektlabilität:

  •  Emotionale Achterbahn
  • Depressive Einbrüche (kurzlebige Dysphorie, i.R.
  • identifizierbare Auslöser)
  •  Euphorie, Logorrhoe, «aufgedreht sein»
  • Launenhadigkeit
  • schneller Interessenverlust, Langeweile

5. Emotionale Überreagibilität

  • Konfus unter Belastung («schnell den Kopf verlieren»)
  • Ängstlichkeit, sich «erdrückt fühlen»
  • Schwierigkeiten mit Alltagsbewältigung unter
  • Belastung
  • Geringe Frustrationstoleranz/ Stressintoleranz
  • Emotionales Überreagieren

6. Desorganisation

  • Falsche Zeiteinschätzung, Schwierigkeiten bei der Zeiteinteilung
  • Verpassen/Vergessen der Termine, Doppelbuchungen, Unpünktlichkeit
  • Prokrastination bis zum letzten Augenblick (in der letzten Nacht vor
  • dem Abgabetermin («Nachteulen»), «auf dem letzten Drücker»
  • Verlieren, verlegen und suchen (Schlüssel, Portemonnaie, Telefon,
  • Brille, usw.)
  • Schwierigkeiten begonnene Arbeiten zu Ende zu führen

7. Impulsivität

  • Trifft plötzliche Entscheidungen, ohne lange zu überlegen (z.B. Impulskäufe/sich schnell auf Beziehungen einlassen, Kündigung)
  • Platzt mit Antworten heraus (Sitzungen/Diskussionen)
  • Kann nur schwer warten/abwarten (Einkaufen, Wartezimmer)
  • Ungeduldig
  • Probleme in Umgang mit Geld (Schulden)
  • Arbeitet schnell und oberflächlich (Flüchtigkeitsfehler,
  • chaotischer Arbeitsstil)